Studienreise nach Brüssel 2022

Europa in 3D oder: Brüssel in sieben(-einhalb) Lektionen

Nach einer Corona-bedingten Pause fand im April 2022 wieder die Brüssel-Exkursion des Universitätslehrgangs „European Studies“ statt. Was bleibt an Erkenntnissen nach einer Woche intensiven Besuchsprogramms? Der Versuch einer Zusammenfassung von Andrea Heigl (Teilnehmerin Jahrgang 2021/22).

Lektion 1: Grau ist alle (institutionelle) Theorie

Egal wie viel man über das institutionelle Dreieck der EU gelesen oder gehört hat: Die Gebäude von Kommission, Parlament und Rat zu sehen und mit den Menschen zu sprechen die dort arbeiten, das fügt dem akademischen Blick auf die EU eine neue Dimension hinzu, oder anders gesagt: Statt in 2D nimmt man in Brüssel die EU in 3D wahr.

 

Lektion 2: Der Außenfeind Russland verschiebt das EU-interne Machtgefüge.

Seit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine ist nichts mehr so wie es war – auch (und besonders) in der EU nicht. Da trifft einerseits auf Offensichtliches zu wie die Sanktionspakete gegen Russland (und die Geschwindigkeit, mit der sie verhängt wurden), die Waffenlieferungen an die Ukraine oder deren Beitrittsgesuch.

Wer genauer hinhört, erfährt aber auch von tektonischen Machtverschiebungen innerhalb des politischen Unionsgefüges: Der Zusammenhalt der Visegrád-Staaten bröckelt massiv, selbst Polen und Ungarn treten in einigen Fragen nicht mehr geeint auf. Es wird spannend zu beobachten, was der neue Außenfeind Russland in der EU noch bewirkt.

 

Lektion 3: Lobbyist*innen haben einen speziellen Blick auf Brüssel.

Mit rund 28.000 Mitgliedsunternehmen ist der Verband der Chemischen Industrie (Cefic) einer der größten und wichtigsten Branchenverbände Europas. Seine Mitarbeiter*innen schauen auf Brüssel herab – aus beeindruckenden Konferenz- und Büroräumlichkeiten hoch über den Dächern der Stadt. Cefic-Generaldirektor Marco Mensink, Chef von 160 Mitarbeiter*innen bei Cefic, ist zweifelsohne ein smarter Lobbyist, betont aber auch die Grenzen seiner Rolle: „As a lobbyist, you must know when to engage and when to leave decisions to politicians.“

 

Lektion 4: Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier ist nichts wert.

Wie gelingt es, im EU-Erweiterungsprozess die Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen? Einfach tausende Seiten an Regularien abzuhaken, ohne deren Einhaltung zu überprüfen, hat sich insbesondere nach der „Big Bang“-Erweiterung 2004 nicht bewährt, räumt ein erfahrener Kommissionsbeamter ein. Stattdessen unterstützt die EU nun mit Geld und Expertise Institutionen, die in Beitrittskandidatenländern etwa den Kampf gegen Korruption aufnehmen sollen („rule of law“ vs. „rule of money“). Die Sicherstellung der Rechtsstaatlichkeit soll künftig das Herzstück der EU-Erweiterung darstellen – der Schluss liegt nahe, dass an dieser Prioritätensetzung nicht zuletzt Polen und Ungarn beteiligt waren.

 

Lektion 5: Die EU-Ratspräsidentschaft kann man als Bürde sehen – oder als Booster für die eigene (innen-)politische Agenda.

In Österreich wird die EU-Ratspräsidentschaft gern als Bürde dargestellt: Dieses oder jenes politische Projekt sei nicht möglich, Wahlen gar völlig undenkbar während dieser – für Politik und Verwaltung fordernden – Zeit. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat diese Logik kurzerhand auf den Kopf gestellt und die Ratspräsidentschaft Frankreichs im ersten Halbjahr 2022 genutzt, um während des französischen Präsidentschaftswahlkampf seine Positionierung als europäischer „Pacemaker“ zu stützen. Ein Indikator dafür ist das Personal der Ständigen Vertretung Frankreichs in Brüssel, das während der Ratspräsidentschaft von 300 auf 600 Personen aufgestockt wurde.

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Lektion 6: Brüssel verändert die Perspektive – auch auf das politische Mutterschiff.

Othmar Karas schöpft aus mehr als 20 Jahren Erfahrung als EU-Parlamentarier – seinen Vortrag vor der österreichischen Studierendengruppe spult der Vizepräsident des Parlaments entsprechend routiniert ab. Die Abgrenzung von seinem politischen „Mutterschiff“ in Österreich, der ÖVP, ist denn auch wohldosiert, aber gut hörbar: Ohne einen weitreichenden Boykott von russischen Energieexporten wird es nicht gehen, betont Karas, denn: „Die Verteidigung von Demokratie, Frieden und Freiheit hat ihren Preis.“

Lektion 7: Die Einstimmigkeit bleibt eine Gretchenfrage für die EU.

Was muss der Europäische Rat einstimmig entscheiden und bei welchen Materien genügt eine qualifizierte Mehrheit? Das ist nicht nur bei Prüfungsfragen im Studium ein echter Evergreen, sondern auch in den Diskussionen über die Weiterentwicklung der EU. Erst kürzlich forderte die „Conference on the Future of Europe” einmal mehr eine Abkehr von der Einstimmigkeit. Der Haken: Um die Einstimmigkeit abzuschaffen, bräuchte es eine einstimmige Entscheidung. Eine Ratsmitarbeiterin macht sich da keine großen Hoffnungen – zu wichtig sei das Veto-Tool für manche Mitgliedstaaten: „They don’t oppose everything, they pick their matters. But they use unanimity as a leverage.“

Copyright Andrea Heigl

(Lektion 7,5: Brüssel ist als Stadt besser als sein Ruf.)

Keine politisches oder akademisches Learning, aber auch nicht ganz unerheblich wenn man überlegt, seine Karriere nach Brüssel zu verlagern: Die belgische Hauptstadt besteht keineswegs nur aus seelenlosen Verwaltungsgebäuden und gestressten Anzugträgern. Wer das EU-Viertel verlässt, findet unzählige entzückende kleine Lokale, gemütliche Plätze und ausreichend Grün. Und das Meer ist nahe genug für einen Tagesausflug!